Dornröschen

Wenn ich mit einer blinden Freundin spazieren gehe, schauen wir uns gerne Blumen an. Ich vor allem mit den Augen. Sie vor allem mit den Händen und mit der Nase. Unsere Eindrücke aus drei Sinneskanälen verbinden wir im Gespräch miteinander und erfreuen uns am entstehenden Gesamtbild.
Sie mag so gerne Flieder. Im Frühling suchen wir nach Fliedersträuchern, ich mit den Augen, sie mit der Nase. Und wenn wir einen erspäht oder erschnuppert haben, ist es oft meine Aufgabe, die hoch oben blühenden Zweige auf Nasen- und Händehöhe herunterzubeugen, damit wir sie von nahem betrachten können.
 
Bei Rosensträuchern ist die Sache komplizierter. Ich mag sehr gerne Rosen. Wenn ich sie betrachte, sehe ich die fein ineinander gefalteten, zierlichen Blütenblätter in den unglaublichsten Farben. Wenn ich daran rieche und dabei die Augen schliesse, wird mir manchmal fast schwindlig von der olfaktorischen Pracht.
Gebe ich meiner Freundin einen Zweig eines Rosenstrauches in die Hand, spürt sie ebenfalls die fein ineinander gefalteten, zierlichen Blütenblätter. Aber vielleicht spürt sie beim Tasten auch einen plötzlichen, gemeinen Schmerz, der sie erschreckt.
 
Ich kann die Dornen des Rosenstrauches ausblenden, indem ich sie nicht beachte und mich auf die Schönheit der Blüten konzentriere. Sie kann das nicht. Die Dornen finden die tastenden Hände und wehren sich gegen die Berührung.
 
Und so sieht ein Rosenstrauch für mich anders aus als für meine Freundin.
Für mich ist er prachtvoll und wunderbar duftend. Für sie ist er zart, duftend und ein bisschen gefährlich.